Schiri sammelt Fouls vom Sofa aus

Günther Thielking aus Hagen durchleuchtet die WM-Spiele im Auftrag des DFB nach Szenen für die Schiedsrichterausbildung

Belgien gegen England. 52. Spielminute. Günther Thielking rutscht auf seinem Sofa zu Hause in Hagen nach vorne und schaut jetzt sehr konzentriert auf den Fernseher. Der iranische Schiedsrichter Faghani zieht gerade die Gelbe Karte. Thielking zückt einen Protokollbogen und schreibt eilig auf: Unerlaubtes Halten. Spielstrafe: Direkter Freistoß. Wenn andere WM-Spiele zum Vergnügen schauen, muss Thielking im Auftrag des DFB arbeiten.

Eine Gruppe von Unparteiischen sucht während der WM im Auftrag des DFB nach Spielszenen, die in die Schiedsrichterausbildung einfließen sollen. Günther Thielking aus Hagen ist einer von ihnen. Der 69-Jährige schaute sich im TV zahlreiche WM-Partien an und notierte sekundengenau Foulspiele und Abseitsstellungen. „Wir haben insgesamt während der WM rund 400 Szenen notiert, von denen 100 den Weg in die Ausbildung finden“, beschreibt der Hagener das Verfahren. Diese Sequenzen werden aufgrund der Protokolle von Thielking und seinen Kollegen aus dem TV-Material herausgeschnitten und in Videodatenbanken als „Abseits“, „Handspiel“, „Notbremse“ oder „Ellenbogeneinsatz“ verschlagwortet. Bei Bedarf rufen die Schiedsrichterausbilder später diese rund halbminütigen Szenen für Schulungen ab.

Zurück zum Spiel Belgien gegen England. Ob eine Szene aus der Partie den Weg in die Datenbank findet? Der Hagener hat sich entspannt zurückgelehnt, sein Blick bleibt auf den Fernseher gerichtet. Zu Beginn wirkt es nicht so, als ob dieser faire Kick um den dritten Platz zu einer hitzigen Schlacht ausarten könnte. „Hier wird nicht groß geholzt. Das ist easy-going für den Schiedsrichter Faghani“, stellt er fest und trinkt einen Schluck Apfelschorle. Der Eindruck bestätigt sich auch in der zweiten Halbzeit.

Am Ende des Spiels hat Thielking eine abseitsverdächtige Szene aus der 4. Spielminute, ein Foul in der 47. Spielminute, das eingangs beschriebene Halten aus der 52. Spielminute mit der Gelben Karte für den Engländer Stones sowie eine weitere abseitsverdächtige Szene mit Belgiens Top-Offensivmann Romelu Lukaku in der 56. Minute in seiner Tabelle festgehalten. Eine magere Ausbeute. Normalerweise stehen nach Abpfiff sechs bis acht Szenen in dem Protokoll. So etwa im Duell Costa Rica gegen Serbien, wo er eine „Rudelbildung vor den Trainerbänken“ dokumentieren musste, die aus Schiedsrichtersicht recht knifflig war.

Solche Situationen beobachtet Thielking an diesem Tag nicht. Die Gelben Karten gegen den Engländer Maguire und den Belgier Witsel nimmt er zwar zur Kenntnis, sie sind aber nicht relevant für ihn. Auch die meisten der 14 Fouls sind es nicht. Mit der Leistung des iranischen Schiedsrichters Alireza Faghani ist der Hagener sehr zufrieden.

Das Spiel lässt Thielking auch Zeit, über seine Eindrücke von den Unparteiischen insgesamt zu sprechen. „Souverän und sicher“ seien die bei dem WM 2018 aufgetreten. Der Niederländer Björn Kuipers, der Argentinier Nestor Pitana und der Senegalese Ma-lang Diedhiou hätten ihn besonders beeindruckt. Ein Wermutstropfen ist für ihn das Stellungsspiel der Kollegen. „Die Schiedsrichter standen oft zu zentral und damit den Spielern im Weg“, hält er fest. Was ihn noch ärgert, ist die frühe Abreise des deutschen WM-Schiris Felix Brych. Thielking hat selbst in hohen Spielklassen Partien geleitet und ist DFB-Schiedsrichterausbilder. So oder so: Der Hagener hat durch seine Beobachtungen selbst dazugelernt. So will er in seiner Ausbildungsarbeit die gestiegene Bedeutung der Standardsituationen berücksichtigen. „Die Trends der WM setzen sich oft fort in den unteren Ligen“, betont Thielking.

Nach Abpfiff der Partie Belgien gegen England atmet er einmal tief durch und legt den Schreibblock zur Seite. „Was wichtig ist, hab ich notiert“, sagt er zufrieden. Ihm mache die Arbeit Spaß. „Deutschland ist schon früh ausgeschieden, ich war bis zum Ende dabei“, ergänzt er mit einem Schmunzeln und steht vom Sofa auf.

Quelle: Nordsee-Zeitung vom 16.07.2018 verfasst von Jens Gehrke